Pasiphaë ist eine Hauptfigur aus Der Prinz im Labyrinth. Der historische Krimi von Charlotte Fondraz spielt vor 3600 Jahren, zur Zeit der minoischen Kultur, auch der Palast von Knossos gehört dazu. Die Autorin hat sich mit Pasiphaë unterhalten.


Charlotte Fondraz im Gespräch mit der Minas Pasiphaë von Kreta
Charlotte Fondraz: Eure Hoheit, Sie haben vor 3600 Jahren das Mittelmeer beherrscht. Damals kannte jedes Kind Ihren Namen sowie den Namen Ihrer Mutter und Ihrer Großmutter. Viel Zeit ist vergangen, und leider … Nun, es gibt Menschen, die nicht wissen, wer Pasiphaë von Kreta ist. Würden Sie uns die Freundlichkeit erweisen, sich vorzustellen?

Minas Pasiphaë: Selbstverständlich! Unwissen muss mit Bildung begegnet werden.
Ich bin die Minas – heute würde man sagen die Königin – von Kreta. Zu meiner Regierungszeit waren uns alle Nachbarstaaten tributpflichtig. Nicht nur die Inseln, sondern auch Städte vom Festland, wie zum Beispiel Athen. Selbst ferne Länder sandten uns Geschenke, und sogar Pharao, der Göttliche König von Ägypten, hat uns gehuldigt.
Doch dann kam das Große Erdbeben, und unsere Macht schwand dahin. Die Athener haben den Respekt vor Kreta verloren. Geradezu unverschämt sind sie geworden. Sie haben Fakten verdreht, regelrecht gelogen haben sie und die verrücktesten Sachen erfunden. Bis zum heutigen Tag spricht man von diesen sogenannten Sagen.
Charlotte Fondraz: Sie spielen auf den Minotaurus-Mythos an.
Die Sage vom Minotaurus
Minas Pasiphaë: Ja, diese Sage von dem Mischwesen ist ein gutes Beispiel! Am meisten ärgert mich gar nicht die Sache mit dem Rind, mit dem ich geschlafen haben soll. Das ist einfach nur lächerlich. Schwanger geworden soll ich sein von diesem Akt und einem Kind das Leben geschenkt haben. Durch den Samen eines Stiers! Da kannst du mal sehen, Charlotte, wie naiv die Athener waren, dass sie diesen Unfug geglaubt haben!

Eine Frau kann vielleicht durch puren Willen ein Kind in ihrem Leib wachsen lassen, davon habe ich schon gehört, aber wenn ein Same beteiligt ist, dann stammt er notwendigerweise von einem Menschen.
Diese Rindergeschichte hat sich übrigens mein ehemaliger Baumeister Daidalos ausgedacht. Ich habe diesen lausigen Athener einsperren lassen, aber er ist geflohen. Als er dann in Sizilien gelandet ist, hat er dort aus Rache diese Lügen über mich verbreitet. Den Patriarchen in Hellas kam das zu Ohren, und diese Komplottisten haben die Idee natürlich gern aufgenommen. Sie haben die Geschichtenerzähler auf den Märkten und in den Palästen das Märchen vom Minastaurus verbreiten lassen. Mit dieser Lügengeschichte konnten sie ihren Theseus wie einen Helden erscheinen lassen, und nicht wie einen feigen Mörder, der er ist.
Schau mal, Charlotte, solche Bilder haben die Griechen von mir und meinem Asterion gemalt. (Sie zeigt das Bild oben.) Asterion, mit einem Kalbskopf, ist das zu glauben?
Charlotte Fondraz: Nein, sehr geschmacklos, tatsächlich.
Aber, Minas, Sie sagten eingangs, dass nicht die Rindergeschichte das Schlimmste sei …
Minos – ein Titel oder ein Eigenname?
Minas Pasiphaë: Genau! Die Griechen haben zuerst ihr verdammtes Patriarchat in allen großen Städten durchgedrückt. Und dann haben sie behauptet, in Kreta wäre ein Mann an der Macht gewesen! Sie hätten für diesen imaginären Herrscher wohl gern den Namen meines Gatten genommen, aber zu dem Zeitpunkt hatte man den armen Nethelaos schon längst vergessen. Deshalb haben sie so getan, als sei mein Titel ein Name gewesen. Minas! Der Minas von Kreta! So einen Schwachsinn muss man sich erst einmal ausdenken!
Charlotte Fondraz: Sie meinen Minos, Hoheit? Minos von Kreta?
Minas Pasiphaë: Ja, genau, Minos haben sie ihn genannt. Das hörte sich für dieses misogyne Pack wahrscheinlich männlicher an. Dass es überhaupt nicht in die Geschichte passt, ist heute der Welt egal!
Charlotte Fondraz: Was meinen Sie damit, es passt nicht in die Geschichte?
Minas Pasiphaë: Na, Charlotte, stell dir mal vor, ich hätte wirklich von einem anderen Mann als meinem Gatten einen Sohn bekommen. Meinst du im Ernst, dass mein Gatte den Tod dieses Jungen beklagt hätte?
Charlotte Fondraz: Hm, vielleicht, wenn er ihn liebgewonnen hätte.
Minas Pasiphaë: (verdreht die Augen) Natürlich nicht, er wäre froh gewesen! Dieser Junge wäre doch der lebende Beweis gewesen, dass mir ein anderer Mann gefällt. Und zwar, dass dieser andere Mann mir so gut gefällt, dass ich nicht nur mit ihm schlafe, sondern auch noch Nachwuchs von ihm austrage!
In der griechischen Lügengeschichte hätte sich der Mythos-Minos über den Tod des unehelichen Sohns seiner Frau freuen müssen. Aber nein, er wird wütend, er tobt. Er gibt Daidalos die Schuld und bestraft ihn.
In Wirklichkeit habe ich Daidalos einsperren lassen! Weil Daidalos mein Baumeister war. Weil seine Schutzvorrichtungen im Palast nicht funktioniert haben. Weil deswegen mein Sohn ums Leben kam. Weil Daidalos ein verfluchter Athener ist, genauso wie Theseus. Die beiden haben gemeinsame Sache gemacht, das ist doch klar! Sie haben meinen wundervollen Sohn Asterion auf dem Gewissen.
Charlotte Fondraz: Mein aufrichtiges Beileid und tiefes Mitgefühl, Hoheit.
Ariadne und Theseus
Charlotte Fondraz: Wenn ich Sie richtig verstehe, haben also die griechischen Männer die wahren Begebenheiten verdreht.
Minas Pasiphaë: Na, was denkst du denn? Diese Fabulanten haben auch Lügen über meine Tochter Ariadne verbreitet! Sie soll Theseus aus freiem Willen gefolgt sein. Weil sie verliebt in ihn gewesen wäre. So ein Schwachsinn! Wenn sie tatsächlich an diesem Schönling Gefallen gefunden hätte, dann wäre er direkt auf Kreta in ihrem Bett gelandet. Wozu Kreta verlassen? Die Griechen, ja, diese patriarchalen Wilden stört es, wenn eine Frau sich einen Mann nimmt, mit dem sie nicht verheiratet ist! Aber auf Kreta waren wir kultiviert!
Und glaub mir, Theseus hätte sich vor Freude nassgemacht, wenn Ariadne ihn gewollt hätte. Er hätte gehofft, dass sie ihn ehelicht. Denn Ariadne hatte gute Aussichten auf den Thron, und dann wäre Theseus kein Prinzlein eines Stadtstaates mehr gewesen, sondern der Gatte der mächtigsten Frau des Mittelmeers.
Guck dir mal den Teller da an. Auf ihm ist Ariadne dargestellt, wie sie Theseus hilft, ihren Bruder umzubringen. Das ist schlimmste Verleumnung!

Charlotte Fondraz: Das ist alles sehr interessant, Hoheit. Doch dürfte ich Ihnen vielleicht auch eine meiner vorbereiteten Fragen stellen?
Minas Pasiphaë: Nur zu.
Charlotte Fondraz: Hoheit, Sie sind Minas geworden durch die Akklamation ihres Volkes. Heute würde man diesen Vorgang mit demokratischen Wahlen vergleichen. Die Favoritin war damals, meine ich, Ihre Schwester. Am Tag der Akklamation jedoch lief ein Schiff in den Hafen von Knossos ein und brachte Geschenke von Mächtigen aus aller Welt. Diese Geschenke waren an „Minas Pasiphaë“ adressiert. Mit anderen Worten, Sie, Hoheit, sollten sie erhalten, aber nur, wenn Sie Minas würden. Es waren wertvolle und wunderbare Geschenke, der „Stier“ war nur eines davon. Und all diese Reichtümer sollten durch Sie persönlich nach Kreta gelangen – oder wieder zu den Schenkenden zurückkehren.
Die Aussicht auf die Geschenke hat das Volk derart begeistert, dass es statt der ursprünglichen Favoritin Sie gewählt hat.
Minas Pasiphaë: Unfug! Was für Geschenke sollten wieder zurückkehren?
Charlotte Fondraz: Verzeihung, Hoheit, aber es war doch so! Die Frauen und Männer aus Knossos haben das Gold, die Sklaven, die exotischen Tiere und so weiter gesehen und haben „Minas Pasiphaë“ gerufen, nur weil sonst der Ägypter mit seiner Ware wieder weggesegelt wäre.
Minas Pasiphaë: Was fällt dir ein! Das ist Majestätsbeleidigung. Wenn wir auf Kreta wären, würde ich dich in ein löchriges Boot setzen und dich von der Insel jagen!
Charlotte Fondraz: Verzeihung, Hoheit, ich gehe freiwillig. Ich danke Ihnen untertänigst für dieses Int…
Oh nein, nun ist sie auf und davon. (Seufzt) Pasiphaë war schon immer aufbrausend. Das nächste Mal interviewe ich lieber Daidalos, der hat bestimmt eine ganz andere Version der Geschichte.
Bildquellen:
- „Portrait Pasiphaë“ (in Wirklichkeit zeigt das Gesamtfresko mehrere, sich sehr ähnelnde Frauen): Ausschnitt aus dem minoischen Fresco „Ladies in Blue“; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Reproduction_of_the_%22Ladies_in_Blue%22_fresco_MET_DP234770.jpg
- Pasiphaë und der Minotaurus als Kind: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pasiphae_and_the_baby_Minotaur,red-figure_kylix_found_at_Etruscan_Vulci,_4th_century_BC,_Cabinet_des_M%C3%A9dailles,_Paris(22614392466).jpg?uselang=de
- Teller mit Minotaurus, Theseus und Ariadne: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Black_figure_plate,_Lydos,_Theseus_and_Minotaur,_ACMA,_190737.jpg